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„Schüttelreimer-Tagung“ Bödefeld

Samstag, 29. April, 15:15 Uhr

Gedanken über das Schütteln = Schüttelgedanken.

Von  K L E N
 
 

Motto: Schüttelreimen

Blödem Volke unverständlich
dichten Verse wir mit Schwung,
wählen Reime und – schlußendlich –
schütteln voll Begeisterung.
Magst es Flucht ins Spielen nennen
aus des Daseins tiefem Ernst;
wirst Dich selber besser kennen,
wenn Du schüttelreimen lernst.

KLEN, frei nach Christian Morgenstern
 
 

Liebe Schüttlerinnen und Schüttler!

Wir wollen hier in Bödefeld nicht nur Schüttelreime vortragen und zitieren, sondern auch über das Schüttelreimen nachdenken und darüber sprechen. Das will ich nun auch tun. Vieles von dem, was ich im folgenden sagen werde, ist Ihnen sicher geläufig und wohlbekannt. Trotzdem sollte man es vielleicht doch einmal (wieder?) zusammenfassend darstellen. An den Schluß dieses Vortrags werde ich jedoch eine Frage stellen, die einerseits meines Wissens nach noch unbeantwortet ist und die andererseits nicht nur uns Schüttelreimer interessieren dürfte.

Warum Schüttelreimen? Dafür gibt es sehr viele Gründe:
Der wichtigste ist wohl: „Es überkommt einen. – Man kann gar nicht anders.“

Aus Freude am „Spaß beim Spiel mit der Sprache“; der homo ludens läßt grüßen.

Es macht sogar doppelten Spaß: Zuerst beim Erzeugen, und dann noch beim Vorlesen.

Ein Schüttelgedicht wird komponiert und ist eine Komposition. Es ist etwas Konstruktives, eine Schöpfung, manchmal sogar eine Eingebung, fast eine Erleuchtung. „Man hat etwas geschaffen“ , das bleibt, auch wenn man selbst vergangen ist.

Prosa schreiben, oder auch gewöhnliche Reime, das kann jeder. Dagegen ist Schüttelreimen schwierig und daher eine Herausforderung und ein Ansporn, denen man nur schwer widerstehen kann. Anders ausgedrückt:

Während andere Menschen im bequemen Fernsehsessel sitzen und sich das neueste Rührstück anschauen ...,

während andere Menschen in der verrauchten Kneipe verbissen über Politik diskutieren ...,

während andere Menschen im Fußballstadion sich die Kehle heiser schreien als Anfeuerung für eine Mannschaft, die dann schließlich doch verliert ...,

haben wir längst ein neues Schüttelgedicht fertiggestellt, von dessen Meisterhaftigkeit noch künftige Generationen begeistert und überzeugt schwärmen werden ... oder aber auch nicht.

Und schließlich: Schüttelreimen kann man überall: Im Sommer und Winter, im Büro und am Strand, in der Skihütte, in der Sauna und im Autobahnstau. Es ist umweltfreundlich, material- und energiesparend. Es ist weder verboten, noch unmoralisch, noch macht es dick!

Daraus folgt, wenn wir die Frage etwas anders formulieren:

Wozu Schüttelreimen?

1) Schüttelreimen zunächst deshalb, weil es Spaß macht, aus Freude am Wortspiel. Dazu ist kein Gegenüber erforderlich.

2) Schüttelreimen dann deshalb, weil damit Kunst und Literatur erzeugt werden kann. Dann schüttelt man für den Leser.

3) Schüttelreimen bereichert unsere Geisteswelt und geht in die Geistesgeschichte ein.

4) Schüttelreime sind schließlich a priori heiter, sie machen unsere Welt fröhlicher. Wir sollten uns nicht schamhaft von der Heiterkeit abwenden, da sie angeblich keine „hohe Kunst“ ist, sondern sollten sie beherzigen und pflegen und sie mit humorvollem Inhalt kombinieren!
 
 

Allerdings sollten wir uns bei diesen Überlegungen über zwei Gegensätze klar sein: Einerseits: Schüttelreime sind ganz sicher die „hohe Kunst“ des Reimens und das „non plus ultra“ der gereimten Dichtkunst.

Andererseits: Schüttelreime belegen nur eine ganz kleine Nische in der weiten Welt des Dichtens.
 
 

Lassen Sie mich diese Aussagen noch etwas vertiefen. Zunächst gilt: Schüttelreimen ist ein Dichten/Reimen unter erschwerten Umständen. Weiter gilt: Die große Dichtung ist nicht notwendigerweise mit dem Reim gekoppelt. Denn: Die großart’ge Dichtung, mein Lieber,
ist doch nur ganz selten gereimt.

KLEN
 
 

Beispiele dafür sind Legion, denken wir nur an Homer, oder an Schillers Tell. Im Gegensatz dazu ist das Schütteln untrennbar mit dem Reim verbunden, wie schon der Name Schüttelreim sagt. Man könnte sich allenfalls von Rhythmus und Metrik abkoppeln. Man könnte also Schüttelpaare auch in jede beliebige, ungebundene Rede einbauen, wie das ja z.B. mit Stabreimen möglich ist! Ein Beispiel dazu wäre (die Anregung erhielt ich von Herrn Regnet und eine Hilfe von Harry Eicke): Aussagen erfolgloser Feuerwehrmänner: Recht mies schauten die Genannten drein. Man fragte sie „Gab‘s Hydranten?“ „Nein. Das Löschen war ein krasser Wahn, denn in dem Brand-Hause gab es keinen Wasserkran und noch nicht einmal eine Handbrause. In der Hitze schmolz Gold, was man teuer fand, jedoch verschonte das Feuer Tand. Sicher finden Sie das auch wenig überzeugend, oder nicht? Damit bleiben wir mit Versmaß und Reim verbunden und sind damit ein Teil der Dichtkunst, wenn auch nur ein ganz kleiner. Es gibt also keinen Grund zur Überheblichkeit, wir haben uns zu bescheiden. Was ist ein Schüttelreim? Eigentlich sollten wir alle mit der Antwort keine Schwierigkeiten haben. Aber: Leider muß ich wieder einmal auf die folgende Tatsache hinweisen: Das eine Wort „Schüttelreim“ bedeutet zwei ganz verschiedene Begriffe. Es besitzt auch heute noch eine Doppeldeutigkeit, Zweideutigkeit und Ambivalenz. Dadurch entstehen unvermeidlicherweise Mißverständnisse. Einerseits ist Reim = Gleichklang,

andererseits ist Reim = Synonym für (gereimtes) Gedicht.

In einem Vortrag auf der „Schüttelreimer-Tagung“ in Ehlscheid 1996 mit dem Titel „Vorsicht vor dem Wort Schüttelreim“ habe ich auf diese Schwierigkeit sehr ausführlich hingewiesen. Trotzdem werden diese beiden Begriffe auch heute noch immer wieder durcheinander gebracht. Ein krasses Beispiel dafür ist die Frage nach der Anzahl der Schüttelreime. Gemeint unter „Reime“ sind hier natürlich die Schüttelreime im ersten Sinn, also die Schüttel-Wort-Paare. Immer wieder wird behauptet, es gäbe mehr gewöhnliche Reime als Schüttelreime also, präzise gesagt, mehr einfache Reim-Paare als Schüttel-Wort-Paare. Diese falsche Behauptung wurde wohl zuerst widerlegt von Frau Steen. In ihrem einzigartigen und klassischen Buch Lexikon für Schüttelreimer, Reime hoch zwei begründete sie schon 1984, ich zitiere: „... daß die Gesamtzahl aller theoretisch möglichen Schüttelreime die Gesamtzahl aller normalen Reime weit übersteigt!“ Dann habe ich selbst 1987 durch wahrscheinlichkeitstheoretische Untersuchungen bewiesen, daß dieses „Übersteigen“ mindestens um den Faktor zwanzig (!) erfolgt (siehe KLEN, Schüttelreime selbst gemacht, S. 103 ff.). Es gibt also mehr als 10 Millionen Schüttelreime gegenüber den rund 500 000 „gewöhnlichen“ Reimen.

Schließlich hat erst jüngst der Schüttelreimer Dr. Gunther Beck die genaue Anzahl dieser Schüttel-Wort-Paare abgezählt. Danach gibt es mindestens 8 074 416 Schüttelreime, diese Anzahl kann aber auch noch erheblich größer sein.

Trotz dieser Tatsachen hält sich jedoch selbst heute immer noch dieses Vorurteil, es gäbe nur relativ wenige Schüttelreime: Herr Terpitz behauptete noch Ende 1999 in der (letzten) Heilen Welt (auf Seite 20), es gäbe fast unendlich viele einfache Reime, anstatt der bei Frau Steen angegeben Zahl von 450 441 !!! – Wie ist es nur möglich, daß die Wahrheit so lange sich nicht durchsetzt?

Nachdem ich auf diese Schwierigkeit hingewiesen habe, werde ich im folgenden – wie üblich – die beiden Begriffe nicht durch getrennte Namen trennen. Aus dem Zusammenhang werden Sie – als „alte“ Schüttelreimerinnen und Schüttelreimer – unschwer erkennen, ob ich mit dem Wort „Schüttelreim“ nun ein Schüttel-Gedicht meine, oder aber ein Schüttel-Wort-Paar.

Nochmals zurück zu der Frage: Was ist ein Schüttelreim? Beginnen wir mit dem Teilproblem:

Wie geht das Schüttelreimen eigentlich vor sich? Am Anfang steht: Der (klassische) Zweizeiler.

Wir beginnen mit dem Schüttel-Wort-Paar. Irgendwann „trifft“ man ein schüttelbares Doppelwort, wie etwa „Weiterreise“. Nach einiger Übung findet man daraus das geschüttelte „reiterweise“. Dieses „Schütteln“, bzw. Vertauschen der Anfangskonsonaten, ist ein Zwang, man hat dabei keine Freiheit! (Fast) alle möglichen sinnvollen derartigen „Schüttel“-Wörter sind bekannt und in Frau Steens Lexikon aufgelistet. Im Prinzip braucht man also „nur“ dort nachzuschlagen.

Nun fehlt noch der „Fülltext“. Ihn zu finden ist spannend, wie die Lösung eines Kreuzworträtsels. Diese Arbeit enthält den ganz wesentlichen Reiz beim Schütteln. Für das genannte Beispiel überlasse ich die Suche und das Finden Ihnen. Sie mögen denken: Das wissen wir schon, das ist ja schließlich nicht so wichtig! Sagten Sie: nicht so wichtig? Schütteln wir:

... nicht so wichtig
... (Ge)wicht so nichtig
Was kann man daraus machen? Denken wir etwa an die Kritiker von Altbundeskanzler Kohl, denen wir zurufen könnten: Ist denn Kohls Gewicht so nichtig?
Sind denn Taten nicht so wichtig?
Oder formulieren wir es anders und sagen wir manchem dieser selbstherrlichen Kritiker: Mensch, Du bist ein Wicht, so nichtig;
nimm Dich darum nicht so wichtig!
Gilt das nicht auch für Manchen von uns?

Zurück zu den Zweizeilern. Sie sind offensichtlich die natürliche Form eines Schüttelreims und die Basis des Schüttelreimens. Es ist damit auch nur natürlich, daß die großen Schüttel-Meisterinnen und -Meister über diese Zweizeiler hinausgegangen sind, hin zum langen Gedicht, zum Sonett, zu Balladen; aber auch zum Quadrupel-, Oktupel-Schüttler, zu den „schweifenden Konsonanten“, zu Tripel-Schüttelungen, zu Schüttel-Limericks, usw.. Trotzdem ist und bleibt der Zweizeiler die Grundform und Basis allen Schüttelreimens.

Nur am Rande sei vermerkt, daß es eine Schüttelkunst-Richtung gab (und vielleicht sogar noch gibt?), die die reinen Zweizeiler als „zu primitiv“ ablehnte und nur größere und längere Schüttelgedichte als „richtig“ zulassen wollte. Lassen wir nun der Einfachheit halber alle Sonderformen weg und betrachten allein längere Gedichte, die nur aus „gewöhnlichen“ Zweizeilern zusammengestzt sind. Dabei kann die Reimform bei vier Zeilen natürlich aabb lauten, aber auch abab oder abba. Die nächste Frage ist: Gibt es „einfache“ und „schwierige“ Schüttel-Formen und welche sind es?

Am leichtesten zu bilden sind sicherlich Zweizeiler. Die Wahl eines „passenden“ Ausgangspaars kann im Prinzip „automatisch“ erfolgen und erfordert keinerlei geistige Leistung. Allein für die Suche nach dem „Fülltext“ ist „Köpfchen“ erforderlich.

Wenn nun aber mehrere Zweizeiler zu einem längeren Gedicht kombiniert werden sollen, so ist das schon schwieriger, weil der Sinn-Inhalt der einzelnen Zweizeiler oft allzu unterschiedlich ist. Leicht ist dabei noch Lyrik, denn man kann dazu beliebige passende Reime verwenden und kann „schwafeln“. Nebenbei: Was ist eigentlich Lyrik? Im Altertum enstand die Definition: Lyrik ist die dritte Hauptgattung der Poesie neben Epik und Dramatik. Gewünscht wird in einem lyrischen Gedicht ein Zusammenklang von Laut, Klang und Bild, möglichst als gefühlsunmittelbare Erlebnis-Lyrik mit Empfindsamkeit und innerer Ergriffenheit. Gehalt und Form sind dabei untrennbar Eins. Mittelschwer ist eine vorgegebene Gestalt, z.B. ein Sonett, bei frei wählbarem Inhalt. Durch diese Festlegung der Form hat man es schon schwerer, selbst wenn es sich inhaltlich um Lyrik handelt.

Am schwersten ist sicherlich ein Gedicht zu einem vorgegebenen Thema, also etwa eine Ballade oder eine andere dramatische Dichtung; aber auch etwa eine Damenrede. Wer so etwas in Schüttelverse zu bannen vermag, der ist (in meiner Meinung) wirklich ein großartiger Schüttel-Dichter.
 

Sind wir Dichter?

Es gibt Kritiker, die es den Schüttelreimern rundherum absprechen, Dichter zu sein. Aber: Wann ist etwas eigentlich „Dichtung“? Bleiben wir zuerst beim Wort: „Dichten“ bedeutet zunächst, die Sprache zu „verdichten“, d.h. mit möglichst wenigen Wörtern möglichst viel auszusagen. Diese Aussage kann entweder „Gefühl“ sein, wie bei der lyrischen Dichtung, oder aber eine „exakte“ Beschreibung der Wirklichkeit – aber in verdichteter Form.

Dazu ein Beispiel: Von Erich Kästner kennen wir den Sinnspruch:  
Es gibt nichts Gutes,
außer, man tut es.
Damit komprimiert er einen wesentlichen Bestandteil der Lehren großer Ethiker. Erstaunlicherweise läßt sich dieser Spruch nocheinmal verdichten und sogar noch gleichzeitig schütteln (!) zu: Tut Gutes.
Gut, tut es!
Durch diese Schüttel-Verdichtung entsteht eine ganz besondere Wichtung, wie schon Werner Terpitz bemerkt: Wer dichtet, – der wichtet. Gleichzeitig ergibt diese Kürze eine spezielle und sehr erwünschte Würze, denn: Der Kenner würzt – wenn er kürzt! wie schon Hermann Müller so richtig feststellte. Sollte man daher diesen „Mini“ nicht als „Dichtung“ bezeichnen dürfen?

Möglicherweise ja. Aber: Wann wird denn ein Reimer zum Dichter? Wir sollten uns vor Überheblichkeit hüten, denn: Unsere Sprache „dichtet“ für uns. Dies hat uns schon Friedrich Schiller ins Stammbuch geschrieben mit:

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich schüttelt und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein?
(Sie werden verzeihen, daß ich in seinem Distichon ein einziges Wort geändert habe, nämlich „dichtet“ zu „schüttelt“.)

Allerdings gilt auch: Gereimte Dichtung ist nie „Feierabenddichtung“. Sie hat stets etwas Pathetisches, Hehres und Erhabens. Wir Schüttelreimer sind aber zuerst Reimer, dann erst Dichter. Ein Gedicht ist verdichtete Sprache, Erfahrung, Erleben. Dazu braucht es nicht gereimt zu sein, es braucht noch nicht einmal Rhythmus zu haben. Der Reim ist nur eine Zugabe zum Gedicht. Genauer gilt

Reim ohne Inhalt ist leer,
ein Gedicht ohne Reim ist aber möglich.
Damit können wir die folgende aufsteigende Reihenfolge der „Künstlichkeit“ und Kunstfertigkeit feststellen: Prosa ® gehobene Sprache ® Rhythmus & Metrik ® Endreime ® Schüttelreime.
  Nach dem Reim nun zum Inhalt:
Ein Schüttelgedicht soll als Einheit wirken, durch Inhalt, Rhythmus und (Schüttel)-Reim. Solange es allein um den Schüttelreim „herum“ gebaut ist – und man das merkt – ist es (bis auf lustige Ausnahmen) wertlos. Es gilt also das Prinzip der Ausgewogenheit: Inhalt und Schüttelung sind gleich wichtig. Es muß ein Sinn im Schüttel-Gedicht vorhanden sein. Sonst ist es Un-Sinn = Ohne Sinn. Der Schüttel-Reim am Zeilenende soll nur das „Tüpfelchen auf dem i“ sein. Wie wird nun dieser Sinn festgelegt, nach welchen Kriterien? Meine persönlichen Kriterien – die ich auch an meine eigenen Reime stelle – sind die folgenden; die Wichtigkeit ist die Reihenfolge: 1) Wie ist der Inhalt? (Ein schwacher Inhalt ist für mich immer unentschuldbar; mit ganz wenigen Ausnahmen, wo etwa ein Wortspiel den „Witz“ ausmacht.)
2) Stimmen Rhythmus und Reim?
3) Ist das Schüttelpaar korrekt?
Wenn alle drei Fragen mit „ja“ beantwortet werden können, dann kann – aber muß nicht – der Schüttelreim „akzeptabel“ sein. Nächste Frage: Gehören Schüttelreime zur Literatur? Im Prinzip selbstverständlich: Ja. Doch beachten Sie: Erst mit der Publikation wird Dichtung zur Literatur. Was jemand „im sicheren Kämmerlein“ dichtet und schreibt, ist noch keine Literatur, und wenn es noch so „gut“ ist. (Nebenbei: Was ist „gut“? Kriterien? Eine Entscheidung kommt immer von außen.) Publikation ist deshalb wichtig, weil der Dichter dadurch nach außen wirken kann. Nur dadurch erhält er auch Anregung von Gleichgesinnten und von deren Werke – selbst wenn er diese anderen nicht persönlich trifft oder sie noch nicht einmal persönlich kennt.

In der Geschichte des Schüttelreimens waren viele – auch Großmeister – oft allzu „scheu“, um ihre Werke zu publizieren. Ein krasses Beispiel dazu ist Benno Papentrigk = Anton Kippenberg, der zehn Jahre lang nur in Privatdrucken „aus sich herausging“, bis er endlich 1942 sich für die Öffentlichkeit bereit fand. Der Erfolg war: das Bändchen wurde bis 1957 in 151 000 Exemplaren verkauft!

Von einem anderen interessanten Beispiel hörte ich wiederholt in Freiburg: Von 1949 bis 1965 wirkte dort an der Staatlichen Musikhochschule ein Professor Fritz Neumeyer. Bei seinen Studenten war er berühmt für die Schüttelreime, die er ad hoc in seine Vorträge einflocht. Sie waren immer spontan und er hat es strikt verboten, daß jemand unter den Zuhörern sie aufschrieb. Leider ist das auch geschehen, so daß wir heute über diesen Schüttler fast nichts mehr wissen. Schade!

Moral: Publizieren Sie unbedingt, und wenn es im Eigenverlag geschieht! Nur nebenbei möchte ich noch auf eine weitere Schwierigkeit hinweisen, nämlich auf den Gegensatz: Schrift vs. Sprache. Manches in der „Literatur“ kann nur mündlich mitgeteilt werden und (erstaunlicherweise) nicht schriftlich. Nicht alles, was gesagt werden kann, läßt sich auch schreiben! Schrift und Sprache entsprechen sich nicht
im Verhältnis Eins zu Eins!
Früher wurden z.B. Heldensagen oder Religions-Inhalte nur mündlich weitergegeben. Manche Sprachen existieren auch heute noch nur mündlich, ohne die Möglichkeit der Transkription! Dies führt (auch) zu der Kontroverse Schüttelreim vs. Anagramm. Ein Schüttelreim (d.h. ein geschütteltes Wortpaar) ist im Idealfall ein spezielles Anagramm. Eine grundsätzliche Differenz zwischen den beiden besteht darin, daß das Anagramm buchstabengetreu sein muß, während es beim Schüttelreim nur auf die Aussprache ankommt. Der Reim: Honig / klon’ ich könnte also für einen Schüttelreim benutzt werden, für ein Anagramm dagegen wäre er völlig unbrauchbar.

Ein Beispiel zu den vielen bekannten „anagrammatischen“ Schüttelreimen ist das oben genannte: Tut Gutes. / Gut, tut es! Ein anderes ist der bekannte Zweizeiler von Heinrich Seidel (et alia):

Wer liebt, soll geben.
Wer giebt, soll leben.
Man könnte sich nun fragen, ob wir in Zukunft etwa nur noch solche „anagrammatischen“ (oder „anagrammatistischen“) Schüttelreime dulden sollten? Sollen wir auf alle „nicht-anagrammatischen“ Schüttelreime verzichten? Die Erfahrung der vergangenen rund einhundert Jahre zeigt, daß dieser Vorschlag bis jetzt niemals aufgenommen wurde. Vermutlich wurde er als „zu unpraktisch“ empfunden. Lassen wir es dabei!

Seltsamerweise tobte aber in den vergangenen Jahren unter den Gildemitgliedern fast ein Krieg um die Frage, ob eine andere Klasse von Schüttelreimen ausgeschlossen oder sogar „verboten“ werden sollten. Gemeint sind damit

Unreine Reime.

Was versteht man darunter? Ein Beispiel von heute morgen ist:

Als ich noch auf der Wange lag,
war meine Frau schon lange wach.

Da kann man nur eines sagen: Au!!! und zwar nicht nur zu meiner Faulheit. Was gibt es sonst noch? Nehmen wir einen unserer Großmeister, Franz Mittler mit dem umwerfenden Quadrupelschüttler: Wenn Du was mit der Lucy hast,
sich schenken einen Hut sie laßt,
auf Schnitzel mit Salat sie hust’,
doch auf Champagner hat sie Lust.
Auf Hochdeutsch passen „Salat/hat“ und „hust’/Lust“ nicht zusammen, wegen langem / kurzem Vokal. Auf Östreicherisch ist das aber korrekt! Außerdem: Schriftdeutsch hieße es „sie läßt sich einen Hut schenken“. Im Dialekt ist es üblich einen solchen Satz mit dem Verb zu beginnen, also mit „sich schenken“. Sind daher unreine Reime erlaubt, wenn sie im Dialekt gedichtet sind? Ein weiteres (zunächst hochdeutsches) Beispiel soll noch etwas mehr in die Problematik einführen: Wenn Dir mal jemand Zaster leiht,
verpraß’ ihn nicht zur Lasterzeit.
Zwar völlige korrekter und „reiner“ Schüttelreim, aber ... langweiliger Inhalt. Übrigens, was ist die „Lasterzeit“? Ist das vielleicht (?): Die Zeit des Lasters / das Leid des Zasters.? (Nebenbei: Der Großmeister Clemens Plassmann sagte in einer verwandten Situation: So kannste doch nich dichten, nee,
T ist nun mal mitnichten D.)
Stellen wir den Vers um als Sinnspruch: Gar mancher hat für Laster Zeit ...
wozu er sich den Zaster leiht.
Das ist schon eher tolerabel, aber man kann es noch verbessern: Wenn Dir mal jemand Zaster leiht,
gib ihn zurück, doch ... „Laß D'r Zeit!“.
Das „Witzige“ daran ist nun gleich doppelt, einmal der „unreine“ Schüttelreim, zum anderen die „unmoralische“ Aufforderung.

Also: Sollen wir unreine Reime verbieten oder sie zulassen? Die „Unreinlichkeit“ könnte doch, zumindest teilweise, recht amüsant sein.

Schauen wir bei unseren ganz großen Dichtern nach, etwa bei Friedrich Schiller. Leider können wir bei ihm sehr viele unreine Reimen finden. Drei einfache Beispiele sind:

„Bürgschaft“:

Die Stadt vom Tyrannen befrei’n
das sollst Du am Kreuze berei’n / bereu'n.
oder, ebendaselbst: und die Treue ist doch kein leerer Wahn,
so nehmt denn mich zum Genossen aaaahn, ..
„Ring des Polykrates“: „Dies alles ist mir untertänig“,
begann er zu Ägyptens Känig / König,
Immerhin haben wir bei ihm – wie bei Franz Mittler – seinen Dialekt als „Ausrede“ und mildernden Umstand. Zur Information: Friedrich Schiller sprach Zeit seines Lebens ein breites Schwäbisch. Wie steht es nun mit Goethe? Beginnen wir mit seinem wohlbekannten „Heideröslein“: Sah ein Knab ein Röslein stehn, ...
war so jung und morgenscheen / schön,
lief er schnell, es nah zu söhn / sehn,
Sah‘s mit vielen Freuden,
Röslein auf der Heuden / Heiden.
Oder wie steht es mit „Mignon“ (Goethe schrieb insgesamt vier Gedichte mit diesem Titel. Gemeint ist: „Nur wer die Sehnsucht kennt ...“)? Hier finden wir die Reimworte leide / Freude / Seite / Weite / Eingeweide / leide. Dazu möchte man mit Goethe sagen: Das sind mir allzu böse Bissen,
An denen die Gäste erwürgen missen / müssen.
„Zueignung“: Tritte / Hütte / Schritte
Entzücken / erquicken
Wiesen / fließen / genießen
„Fragespiel“: Zeit / erfreut
Höhlen / quälen / wählen !!!
und so weiter mit: Küßt / wißt, studieren / verführen, usw. ...

Jedem, der behauptet, Goethe hätte „fast nie“ unreine Reime benutzt, möchte ich das folgende Experiment vorschlagen: Greifen Sie in seinen lyrischen Dichtungen wahllos einige Seiten heraus. Streichen Sie dort alle unreinen Reime an. Sie werden sich wundern! Es gibt bei ihm Hunderte davon, wie auch bei Schiller! Offensichtlich empfanden die beiden die unreinen Reime durchaus nicht als „schlecht“ und „verboten“, sondern benutzten sie gerne und wohl ohne das geringste schlechte Gewissen.

Was wollen wir daraus folgern?
Wollen wir etwa „schillernder“ als Schiller sein?
Berücksichtigen wir doch auch noch: Mit der Verwendung unreiner Reime haben wir mehr Möglichkeiten: „Unsere Dichtung ist damit reicher geworden“. Zusammenfassung: Unreine Reime sind nicht notwendigerweise schlechte Reime. Schlechte Dichtung kann schlecht sein, obwohl sie nur „reine Reime“ verwendet, „exakte Metrik“ benutzt etc.. Gute Dichtung dagegen darf (aber muß nicht) „unreine Reime“ verwenden, „holprige Metrik“ etc.. Unsere großen Dichter beweisen das!

Wenn unsere großen Dichter unreine Reime verwendet haben (und das haben sie getan!), warum sollten dann wir Schüttelreimer das nicht auch tun dürfen?

Das Gegenargument: „Quod licet Yovi. non licet Bovi“ ist an sich richtig, aber: An wen sollten wir uns denn als Vorbilder halten, wenn nicht an unsere großen Dichter?

Nun sollte man sich bei dem Wort „unrein“ vor einem möglichen Irrtum hüten: Unreine Reime sind nicht apriori „schmutzig“. Das führt uns zu dem Kapitel

Unanständige Schüttelreime.

Seltsamerweise gelten in der (nichtschüttelnden) Öffentlichkeit Schüttelreime oft als sexuell unanständig. Woran liegt das? Es gibt zunächst überhaupt keinen Grund dafür, warum gerade Schüttelreime einen sexuellen Inhalt haben sollten. Außerdem gibt es in den gängigen Schüttelbüchern fast ausschließlich „saubere“ Schüttelgedichte; die wirklich schweinischen sind – soweit sie bekannt sind – bei weitem in der Minderzahl.

Völlig anders ist das dagegen bei Limericks. Wenn man englischsprachige Bücher mit Sammlungen von Limericks betrachtet (ich selbst habe zwei mit je 5000 und 10000 (!) Strophen studiert), so ist deren Inhalt fast ausschließlich sexueller Natur und zwar von niedrigstem Niveau (mehr oder weniger eine Aneinanderreihung von Begriffen aus dem Genitalbereich)! Dabei ist apriori nicht einzusehen, warum Limericks einen unanständigen Inhalt haben sollten. Ohne darauf zu bestehen, die wirkliche Ursache gefunden zu haben, möchte ich als möglichen Grund die folgende Beobachtung zur Diskussion stellen:

Zu „schweinigeln“ ist ein Tabuthema, und wird – selbst an Stammtischen und bei Pubertierenden – sehr schnell langweilig. Wenn dagegen dieselbe Unanständigkeit in ein Reimschema gebunden wird, statt sie in Prosa auszusprechen, so wird sie dadurch fast „geheiligt“ und „zulässig“. Das gilt besonders dann, wenn dieses Reimschema „unüblich“ ist und aus der Zahl der sonstigen Reime herausragt. Damit bieten sich dafür Limericks oder Schüttelreime an. Ob das der Grund ist?

Kehren wir zurück zu einem allgemeineren Thema, nämlich zu:

Das „Menschliche“ am Schüttelreimen.

Schon als junger Schüttelreim-Liebhaber war ich neugierig darauf zu erfahren, was eigentlich das „Menschliche“ am Schüttelreimen sei? Später hatte ich das Glück, viele Schüttel-Reimerinnen und Reimer kennenzulernen, aber ich „getraute“ mich oft nicht näher an sie heran. Ich las und studierte ihre Gedichte und fragte mich: „Was für ein Mensch steckt eigentlich hinter diesem oder jenem Kunstwerk?Wie ist er auf diese Aussage gekommen? Was war eigentlich der (äußere oder innere) Anlaß für ihn oder sie, gerade diese Schüttelgedichte zu schreiben?“

Leider habe ich auf diese Fragen nie eine Antwort bekommen. Auch auf allen bisherigen Schüttelreimer-Treffen, bei denen ich immer sehr genau aufpaßte, wurde über diesen Aspekt fast nie gesprochen. Wie schön wäre es, wenn nun gerade hier und heute solche Antworten gegeben werden könnten, wenn jeder Anwesende zu jeder seiner Publikationen genau die Entstehungsgeschichte mitteilen würde. Vermutlich ist das weitgehend unmöglich. Warum?

Woher kommen unsere Ideen? Wieso können wir uns normalerweise an den Ursprung nicht mehr rückschauend erinnern? Dies ist eine Fragestellung, die nicht nur allein uns Schüttelreimer betrifft. Sie ist vielmehr typisch für jede schöpferische geistige Leistung! Es ist gerade nicht so, daß der Dichter sich gemütlich zurücklehnt, seine Gedanken ordnet und dann logisch fließend von A nach B nach C seine Gedichte „entwirft“ und aufschreibt. Sicher, vieles in jeder geistigen Leistung ist überschaubar gewachsen und wurde vorhersehbar konstruiert. Aber das Wesentliche, das eigentliche Schöpferische ist nie vorhersehbar. „Es überkommt ihn oder sie“, „wie ein Blitzstrahl“ war die Idee da, es war „wie eine Erleuchtung“. Und wenn man dann in seinem Gedächtnis forscht, woher eigentlich diese Idee kam und wie sie sich im Gehirn formte, dann kann man sich nicht mehr erinnern. Je mehr man nachbohrt, umso weniger wird man fündig. Wieso ist das so? Dies ist eine Frage, die mich schon seit vielen Jahrzehnten beschäftigt und umtreibt. Vielleicht kann mir jemand von Ihnen darauf eine Antwort – oder wenigstens eine Teil-Antwort – geben. Ich wäre darüber sehr glücklich.

Um die Fragestellung noch etwas zu erläutern, möchte ich zu meinem Fachgebiet, der Mathematik, abschweifen. Für die Nichtmathematiker unter Ihnen möchte ich eines feststellen: Das Wesentliche für den schöpferisch tätigen Mathematiker ist nicht, mathematische Beweise zu finden, sondern neue mathematische Theorien zu entwickeln.

Als Beispiel möchte ich meine erste eigene Erfahrung mit dem genannten Phänomen darstellen. Es handelt sich dabei um die Entstehung meiner mathematische Diplomarbeit, deren Thema ich mir selbst gestellt hatte. Ich kannte eine gewisse mathematische Fragestellung, ein Minimumproblem, das aber bis dahin ungelöst geblieben war und ich dachte öfters darüber nach. Plötzlich, abends vor dem Einschlafen, „sah“ ich die Lösung des Problems. Ich war mir völlig sicher, daß sie richtig sein würde, obwohl sie nur in meinem Kopf existierte und ich sie nicht mit Bleistift und Papier festgelegt hatte. Aber sie stimmte und ich konnte später, nach harter Arbeit, auch logisch genau nachweisen, daß meine Intuition richtig gewesen war. Aber, wie ich darauf gekommen war, ließ sich trotz vielen Grübelns nie auch nur im Ansatz feststellen.

Später ist es mir in der Mathematik immer und immer wieder so gegangen. Auch Andere berichten ebenfalls von dieser Erfahrung, nicht nur Mathematiker oder Naturwissenschaftler oder Techniker, nein auch Schriftsteller und Dichter:

Ganz plötzlich befindet sich eine Idee in unserem Kopf. Wie sie entstanden ist und woher sie kommt, läßt sich anschließend – trotz intensiven Suchens – nicht mehr rekonstruieren. In unserem Geist entsteht dann abrupt eine totale Blockade.

Warum ist das so?

Abschweifung: Hat das etwas mit unserem Gedächtnis zu tun? Warum vergessen viele Schüttelreimer ihre gefundenen Reime so leicht??? Es ist bei ihnen „Standard“, stets Papier und Stift dabei zu haben. Denn, wenn nicht aufgeschrieben, verlieren wir den soeben gefundenen ganz exzellenten Schüttelreim sofort wieder. Warum ist das so? Eigentlich müßte doch ein Schüttelreim ganz leicht ins Ohr und ins Gedächtnis hineingehen.

Wie ist das denn mit dem Gedächtnis? Warum lassen sich manche Gedichte leicht lernen (Beispiel Uhlands „Leiereien“), andere aber nicht, selbst wenn man sehr gut auswendig lernen kann (Beispiel Mörike: „Der sichere Mann“)???

Wir haben also das folgende Phänomen: Immer wieder haben Menschen „Ideen“. Das geschah nicht einige wenige Mal, sondern ist in der Geschichte millionenfach immer wieder vorgekommen. (Ideen sind hier nicht im Sinne von Plato gemeint, sondern in dem „modernen“ Sinne, der im folgenden umschrieben wird.) Diese Ideen sind mindestens in unserem Falle keine Wahnideen, sondern sie sind von anderen nachprüfbar z.B. als große Dichtkunst oder als mathematische Theoreme. Von ihren „Erzeugern“ werden sie als „Eingebungen“ o.ä. bezeichnet. Man kann diese Ideen nicht auf Geheiß produzieren etwa so, wie ein Schuster einen Standardschuh anfertigt. Ihre Entstehung ist aber so sicher, daß man als schöpferischer Mensch „darauf warten kann“, daß „etwas passiert“. Man kann das „Was“ nicht vorhersagen, sondern nur das „Daß“. Diese Erscheinung ist nicht nur auf das Dichten oder gar Schüttelreimen beschränkt oder auf die Mathematik, die Naturwissenschaften, etc.. Nein, sie tritt immer wieder ein.

Etwas Ähnliches wird auch von religiösen „Erweckungen“ und „Bekehrungen“ berichtet. Ich will diese aber nicht näher betrachten, weil sie unwiederholbar sind und auch von anderen nicht unmittelbar nachvollzogen werden können. Sie liegen in einer anderen Kategorie. Ich betrachte also nur die „Ideenproduktion“.

Die beiden Fragen sind nun:

1) Woher kommen diese „Ideen“?
2) Warum scheint es unmöglich zu sein, sie zu ihrem Ursprung im Geist des Betreffenden zurückzuverfolgen?
Einen Augenblick vorher war „noch nichts da“, war das Gehirn noch „leer“. Im nächsten Augenblick ist die Idee da ... . Als „Ideenproduzent“ erhält man bald einige Übung und kann das Entstehen von Ideen vorhersagen, ja evtl. sogar vielleicht „erzwingen“. Aber man kann niemals erwarten, daß genau diejenige Idee sich manifestiert, die man gerade wünscht. Man kann Schüttelreime oder Schüttelgedichte „hervorbringen“; aber ob es gerade diejenigen sind, die man voller Sehnsucht sucht ..., das hängt nicht von einem selbst ab.

Bis hierhin könnte man denken, es handele sich bei den beiden Fragestellungen um ein „lokales“ Phänomen unseres Geistes, genauer gesagt eines einzelnen isolierten Intellekts. Dieses müßten „im Prinzip“ die Psychologen oder die Physiologen – also kurz die Geisteswissenschaftler – oder aber auch die Hirnforscher lösen können. Vielleicht haben sie es aber auch schon längst gelöst? Nun kommt aber noch eine weitere Beobachtung hinzu: Gelegentlich entstehen solche Ideen aber nicht nur in einem einzelnen Gehirn sondern treten mehr oder weniger gleichzeitig auf. Dies ist oft beobachtet worden und wird dann erklärt mit: „Die Zeit war reif für die Idee“. Allerdings erklärt dieser Terminus überhaupt nichts!

Denken wir etwa an Isaak Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz, die beide gleichzeitig und unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung erfanden. Weitere Beispiele in der Wissenschaft und Technik gibt es zuhauf. – Auch ich habe diese Koinzidenz mehrfach erlebt. Einmal trafen bei einem von mir organisierten Mathematiker-Kongress drei Mathematiker von verschiedenen Orten zusammen, die dort exakt dieselbe neue mathematische Erkenntnis vortragen wollten. Keiner hatte mit dem anderen in Verbindung gestanden. Die Idee (das Lösungsverhalten von linearen Gleichungsystemen mit Intervall-M-Matrizen) war auch in der Literatur noch nirgends behandelt worden. Großes Erstaunen allerseits: „Die Zeit war reif für diese Idee“.

Dabei ist es jedoch nicht so, daß solche „Simultan-Ideen“ wirklich in allen Einzelheiten identisch sind. Vielmehr sind die „fertigen“ Ideen-Ausarbeitungen, die dann an die Öffentlichkeit gebracht werden, stark von der Persönlichkeit des „Ideenträgers“ geprägt. Es sieht also so aus, als sei nur „der grobe Umriß“ „von Außen gekommen“. Dieser wird dann – gemäß dem jeweiligen persönlichen Intellekt – noch individuell ausgearbeitet.

Allerdings muß dabei betont werden, daß es solche „Parallel-Erfindungen“ zwar in Naturwissenschaft und Technik, aber in der Dichtung und damit auch beim Schüttelreimen fast gar nicht gibt. Denn, daß mehrere Schüttler – unabhängig voneinander – dasselbe Schüttel-Wort-Paar benutzen kommt natürlich oft vor. Daß sie bei einem Zweizeiler auch noch dieselben Füllwörter verwenden, ist zwar selten, aber nicht unmöglich und wird auch gelegentlich beobachtet. Daß aber zwei Dichter – ob geschüttelt oder ungeschüttelt – genau dasselbe längere Gedicht erzeugen ..., dafür liegt die Wahrscheinlichkeit fast bei Null.

Wie paßt das alles zusammen??? Ich selbst habe dazu eine – zugegebenermaßen sehr wilde Lösungsidee, getraue mich aber nicht, sie hier zu präsentieren. Jedoch würde ich mich freuen, bei einem guten Glase Wein gelegentlich diese Fragen im internen Kreis diskutieren zu können. Damit möchte ich schließen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. [Zurück zum Seitenanfang]
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